S. Altorfer-Ong: Staatsbildung ohne Steuern

Titel
Staatsbildung ohne Steuern.. Politische Ökonomie und Staatsfinanzen im Bern des 18. Jahrhunderts


Autor(en)
Altorfer-Ong, Stefan
Erschienen
Baden 2010: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
339 S.
Preis
URL
von
Gisela Hürlimann, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich

Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich um die deutschsprachige Überarbeitung der Dissertation, die der heute in Singapur lebende Stefan Altorfer-Ong 2006 an der London School of Economics eingereicht hatte. 1 Die Studie entstand im Rahmen des Forschungsprojekts «Bernische Finanzgeschichte in der Frühneuzeit (BeFin)» 2, für welches historische Rechnungen des Standes Bern aus dem 17. und 18. Jahrhunderts transkribiert und in eine Datenbank überführt wurden. Martin Körner, der 1981 eine Abhandlung über frühneuzeitliche Luzerner Staatsfinanzen publiziert hatte, leitete das Projekt am Historischen Institut der Universität Bern. Nach seinem Tod übernahm André Holenstein die Leitung, während Stefan Altorfer-Ong das Projekt koordinierte. Im diesem Kontext entstanden, gestützt auf Daten und Akten aus den Archiven in Bern, Lausanne und Aarau, auch weitere Forschungen zum frühneuzeitlichen bernischen Finanzhaushalt. 3 Synthetisierte Erkenntnisse aus Altorfer-Ongs Dissertation flossen auch in den vierten Band der neuen Berner Kantonsgeschichte ein. 4 Diese Verortung macht deutlich, dass Thema, methodische Ansätze und zitierte Literatur sich auf ein breites Forschungsnetz stützen, das bis zur angelsächsischen Wirtschafts- und Finanzgeschichte (Richard Bonney5, Patrick O’Brien, P.G.M Dickson) reicht und interdisziplinäre Überlegungen zu State-Building. In diesem internationalen Netzwerk situiert Altorfer-Ong seine Untersuchung explizit, wenn er festhält: «Jegliche Forschung über die ökonomischen Konsequenzen von Staatsbildung sollte mit einem vergleichenden Ansatz geschrieben werden» (S. 48). Weil der Meisternarrativ frühneuzeitlicher Staatenbildung der «Military Revolution» (Michael Rodgers, Geoffrey Parker) und deren fiskalisch-administrativen Implikationen einen zentralen Platz einräumt, will der Autor erklären, warum und wie die Berner Staatsbildung von diesem Muster abweichen konnte: «Die zentrale Fragestellung dieser Untersuchung […] ist deshalb, welche Funktionen ein frühneuzeitlicher Staat in der Abwesenheit von Krieg ausführte und welchen Einfluss dies auf seine Ökonomie hatte» (S. 11).

Altorfer-Ong geht es um dreierlei: erstens um die Etablierung eines alternativen Modells von Staatsbildung am Beispiel der «Res publica Bernensis» im 17. und 18. Jahrhundert (Kapitel 2). Zu diesem Zweck testet er das herrschaftssoziologische Theorieangebot von Max Weber über Michael Mann bis zu Thomas Ertman und destilliert daraus eine mögliche Typologie zur Kategorisierung des Standes Bern. Fazit: Der Berner Territorialstaat des Ancien Régime entspreche einem «patrimonial-absolutistischen» Infrastruktur- und Regierungstyp. Die Finanz- und Steuerverfassung dient dabei, ganz im Sinne der Finanzsoziologie in der Tradition von Rudolf Goldscheid und Joseph Schumpeter, als eine Art Transmissionsriemen für die politischen Verhältnisse. Inspiriert von der New Fiscal History (Philip Hoffman, Kathryn Norberg), die einen positiven Link zwischen ausgeprägter politischer Repräsentation und höheren Steuern feststellte, lautet Altorfer-Ongs erfrischende These: Das Fehlen direkter Steuern schützte das alte Bern vor politischer Unruhe und legitimierte die patrizische Herrschaft (S. 59). Denn weniger als 1 Prozent der Einwohnerschaft auf bernischem Territorium war im 18. Jahrhundert mit den vollen politischen und Zugangs-Rechten zu Ämtern und Macht ausgestattet. Machtkonzentration und Oligarchisierung waren auch Thema von Katrin Rieders Dissertation über die Berner Burgergemeinde (2008). Indem der Verfasser seine Analyse auf den engeren Kreis der «staatlichen» Chargen fokussiert – auf die regimentsfähigen Familien und die aus diesen hervorgehenden Schultheissen, Mitglieder und Institutionen des Grossen und des Kleinen Rats sowie auf die Landvögte –, blendet er die politischen Beziehungen in Dörfern und Gemeinden und die dortigen wirtschaftlich-fiskalischen Verflechtungen und Abhängigkeiten aus. Zwar wird erwähnt, dass die Mehrheit aller für den bernischen Staat Tätigen weder Patrizier noch Burger waren und dass sich die Obrigkeit Ruhe, Ordnung und Kooperation nebst tiefen Steuern durch Einbindung der lokalen Eliten erwarb. Doch diese lokalen Eliten und die ihres Staatshandelns werden aufgrund der ausgewählten empirischen Daten nicht weiter beleuchtet.

Zweitens und im Anschluss an seine State-Building-Typologie will Altorfer-Ong in Kapitel 3 den bernischen «Sonderfall» – Staatlichkeit bei fast vollständiger Abwesenheit von Krieg und von direkten Steuern – empirisch erklären. Das in der Einleitung skizzierte Modell eines überzeitlichen Auswertungsrahmens für vormoderne Finanzdaten – von Martin Körner entwickelt und von Stephan Hagnauer und Niklaus Bartlome verfeinert – wird hier mit den Daten aus den bernischen Standesrechnungen und Generalbilanzen umgesetzt. Resultat ist eine «anachronistische», nach modernen finanzwissenschaftlichen Kriterien erstellte «Gesamtrechnung» für das 18. Jahrhundert, die sich aus einer «Verbrauchsrechnung» und einer «Investitionsrechnung» zusammensetzt. Den Einwand, «dass die Zeitgenossen […] nicht den hier vorgestellten analytischen Kriterien» folgten, «sondern in Kategorien des 18. Jahrhundert» dachten, wischt Altorfer-Ong vielleicht etwas allzu leicht mit dem Hinweis beiseite, «dass Sozialwissenschaft [sic!] über die Grenzen der zeitgenössischen Wahrnehmung hinausgehen muss, wenn sie einen Erkenntnisgewinn bieten will» (S. 118). Bei aller Skepsis gegenüber einer solchen Übersetzung historischer Daten und der Konstruktionvon extrapolierten, homogenisierten Zeitreihen für Ausgaben, Einnahmen und Budgetüberschüsse (in 78 von 96 untersuchten Jahren!) sowie gegenüber einer Art sachlich-funktionalen Gliederung, beeindruckt der mit Hilfe vieler Tabellen und Grafiken anschaulich umgesetzte Wille zum quantifikatorischen und kausalen Erkenntnisgewinn. So führt das Säulendiagramm mit den Einnahmen «nach Kategorie» die Wichtigkeit von Salzmonopol und -verkauf sowie der Zinseinnahmen deutlich vor Augen (S. 134). Ausgabeseitig fällt ins Auge, wie bescheiden die staatlichen Militärausgaben bis zu den 1790er Jahren insgesamt blieben. Für Auswertung und Analyse stützt sich Altorfer-Ong nicht nur auf eigene Quellen bzw. auf die BeFin-Datenbank, sondern auch auf Forschungen von Christian Pfister zu den Berner Zehnten oder von Erika Flückiger-Strebel zu Getreidepreisen. Die Berechnungen belegen insgesamt die in der Einleitung aufgestellte These, wonach Bern ein «Surplus» bzw. «Überschuss-Staat» sei, nicht nur infolge des Salz- und Getreideverkaufs, sondern auch mit Hilfe der Einnahmen aus ausländischen Investitionen (Kapitel 5). Weitere Einnahmequellen waren die Zehntabgabe, der die bäuerliche Bevölkerung unterworfen war, und Pensionen aus dem Geschäft mit eidgenössischen Söldnern in ausländischen Kriegsdiensten. Stärker als der monetäre Nutzen des Söldnerexports steht dessen aussen- und fiskalpolitische Bedeutung – die Kriegsverschonung der alten Eidgenossenschaft und damit ein tiefes Militärbudget – im Vordergrund. Eine Miliz – mobilisierungsfähige Untertanen, die sich auf eigene Rechnung zu bewaffnen hatten – reichte aus. Daneben trugen auch die Absenz einer Staatsschuld sowie minimale Kosten für die Verwaltung zur Überschusswirtschaft bei.

Was bedeutete eine solche Finanzverfassung aus redistributiver Sicht? Die Antwort darauf findet sich in Kapitel 4: Denn der Verfasser will drittens via die Art und Höhe der Berner «Steuern» sowie mittels einer Analyse der fiskalischen Umverteilung im reichsten und grössten Einzelstaat der alten Eidgenossenschaft einen Beitrag zu einer «politischen Ökonomie» von staatlichem Handeln leisten. Von Hilton Root übernimmt Altorfer-Ong ein weitgefasstes Konzept von «Umverteilung», mit dem er etwa nachweist, dass Nicht-Bürger insgesamt mehr (indirekte) Steuern bezahlten als Bürger. Die Problematik moderner Konzepte zeigt sich erneut, wenn sich der Autor zur Analyse der «sektoralen Umverteilung» anschickt. Macht es Sinn, frühneuzeitliches Wirtschaften in das im 20. Jahrhundert entwickelte Modell der drei volkswirtschaftlichen Sektoren einzupassen und die damalige Verwaltung als «eigenständigen Teil des dritten Sektors» (S. 212) zu bezeichnen? Dieselbe Frage stellt sich beim mutigen Versuch, die durchschnittliche «Fiskalbelastung» der Berner Bevölkerung aus indirekten Steuern und Verbrauchsabgaben, aus der Zehntbelastung sowie aus den materiellen und Opportunitätskosten für den Dienst im Milizheer zu berechnen. Anderseits ist ein solches Vorgehen, das vom zeitgenössischen Kontext abstrahiert und neuzeitliche volkswirtschaftliche Konzepte übernimmt, im Kontext des gesamten BeFin-Projekts nur folgerichtig.

Bleibt, die dergestalt gewonnenen Erkenntnisse mit der im Buchtitel vertretenen These von einer «Staatsbildung ohne Steuern» zu vergleichen. Der Autor gelangt zum Schluss, die Fiskalbelastung der Bevölkerung habe im Lauf des 18. Jahrhunderts zwar um fast 50 Prozent zugenommen, sei aber im internationalen Vergleich bescheiden geblieben; nämlich bei etwa einem Drittel der französischen Steuerbelastung (S. 234, leider ohne Quellenangabe). Dazu trugen auch die bereits erwähnten Einkünfte aus den in Kapitel 5 erörterten Auslandinvestitionen bei. Dabei handelt es sich um eine in sich abgeschlossene, gelungene Fallstudie über das Investitionsverhalten eidgenössischer Akteure auf ausländischen Finanzmärkten im Kontext der «Financial Revolution» (Dickson) und von Lernprozessen infolge der South Sea Bubble von 1720. Im abschliessenden Kapitel 6 sieht der Autor sein Modell des Berner Surplus-State bestätigt. Gleichzeitig hält er fest, dass die tiefe Belastung mit direkten Steuern angesichts der (Opportunitäts-)Kosten aus dem Milizsystem als «geringer Trost» (S. 286) zu werten sei, und bezeichnet Bern als «Zehntstaat» (S. 288). Dies habe auch eine Modernisierung der Landwirtschaft bzw. der Wirtschaft überhaupt verzögert. Es bliebe zu untersuchen, so die Anregung des Autors, ob das Berner Staatsbildungsparadigma weniger ein Sonderfall als vielmehr repräsentativ für die «Staatsbildung in einem anderen Europa» (S. 299) als jenem der monarchischen Grossstaaten ist.

1 Stefan Altorfer-Ong, State-Building without Taxation. The Political Economy of Government Finance in the Eighteenth-Century Republic of Bern, PhD Thesis, University of London/LSE, 2006.
2 Vgl. die Projektwebsite inkl. Rechnungstranskriptionen: http://www.befin.hist.unibe.ch/ index.htm sowie Martin Körner, «Berns Staatsfinanzen vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Ein Forschungsprojekt an der Universität Bern», in: Bernische Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde, 59 (1997), S. 324–326.
3 Insbesondere von Stephan Hagnauer und Niklaus Bartlome..
4 Stefan Altorfer-Ong, «Staatsfinanzierung ohne Steuern», in: André Holenstein et al. (Hg.), Berns goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt, Bern 2008, S. 463–468.
5 Vgl. auch Richard Bonney (ed.), Economic Systems and State Finance, Oxford 1995.

Zitierweise:
Gisela Hürlimann: Rezension zu: Stefan Altorfer-Ong: Staatsbildung ohne Steuern. Politische Ökonomie im Bern
des 18. Jahrhunderts. Baden, Hier+Jetzt, 2010 (Archiv des Historischen Vereins
des Kantons Bern, 86). Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S. 293-296.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S. 293-296.

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